
Talkrunde beim finanzpolitischen Neujahrsempfang mit (von links) Moderator Christian Döring, Juliane Kuhlmann, Nils Kliesing, Lucian Lazar, Stefan Stein, Christian Suhr, Prof. Dr. Thomas Döring und Landrat Thomas Will. Foto: Kreisverwaltung
„Ohne Reformen droht der Kollaps“
KREIS GROSS-GERAU – Die Zukunft der Kommunalfinanzen war Thema des finanzpolitischen Neujahrsempfangs, den der Kreis Groß-Gerau auf Beschluss des Kreistags hin am Freitag, 17. Januar, ausgerichtet hat. Ziel war es, auf die prekäre Finanzsituation hinzuweisen und auf die daraus resultierenden Schwierigkeiten, alle Aufgaben zu erfüllen. Gut 100 Gäste aus Politik und Gesellschaft kamen in den Georg-Büchner-Saal des Landratsamts, wurden dort vom die Veranstaltung umrahmenden „Duo Tastenstreich“ mit einem thematisch passenden Stück musikalisch empfangen.
Nach der Begrüßung von Landrat Thomas Will ging es gleich zur Sache: Prof. Dr. Thomas Döring (Ökonom und Soziologe, Hochschule Darmstadt) - vom zufällig namensgleichen Moderator Christian Döring kurz vorgestellt - legte in seinem Impulsvortrag eindrucksvoll dar, wie dramatisch die Haushaltslage der Kommunen bundesweit ist: sei es durch Zitate der Präsidenten der Kommunalen Spitzenverbände („Die Kommunalfinanzen sind in dauerhafter Schieflage“), sei es durch Präsentation von Daten zur gesamtwirtschaftlichen Lage, zu Einnahmen und Ausgaben und zur Finanzlage der Kommunen. Die Präsentation von Professor Döring finden Interessierte hier.
Der Wissenschaftler nannte als Gründe für die Schieflage, die den Kommunen jeglichen Handlungsspielraum nimmt, unter anderem Wirtschaftsflaute, Inflation, steigende Ausgaben im Sozialbereich, neue Aufgaben, die Bund und Länder auf die kommunale Ebene übertragen, sowie zugleich sinkende Zuweisungen (sowohl laufende als auch für Investitionen). Zu den für die kommenden Jahre prognostizierten Zahlen sagte Prof. Döring, dass Vorsicht angesagt ist, weil alles auf der Annahme basiert, dass es künftig wieder ein Wirtschaftswachstum gibt.
Bereits jetzt ist laut Referent klar, dass die kommunale Verschuldung zunehmen wird, dass nötige Investitionen nur verzögert umgesetzt werden können und dass bereits erfolgte Sparmaßnahmen verpuffen. In der anschließenden Gesprächsrunde wurde deutlich, was dies alles konkret bedeutet. „In unserem Kreis haben wir einen Investitionsbedarf von einer Milliarde Euro. Nach aktuellem Stand der Dinge brauchen wir für die Umsetzung 25 Jahre. Diese Zeit haben wir nicht. Da muss sich dringend etwas ändern“, sagte der Landrat.
Auch der Vorsitzende des Kreiselternbeirats, Stefan Stein, beschrieb die drastische Lage von Schulen, „die aus allen Nähten platzen“. Dabei sei es so wichtig, in die Bildung der Kinder zu investieren, denn „das erzeugt langfristig eine starke Wirtschaft“. Auch bei Sportstätten gibt es Sanierungsbedarf, sagte Juliane Kuhlmann aus Nauheim, die Präsidentin des Landessportbundes Hessen. Kommunale Sportförderung sei eine wichtige Säule. Wenn diese wegfalle, dann „können Angebote nicht mehr stattfinden, obwohl die Nachfrage da ist“. Außerdem demotiviere ständiger Mangel die ehrenamtlich in Sportvereinen Tätigen.
Nils Kliesing, Geschäftsstellenleiter der Kreishandwerkerschaft Groß-Gerau, sagte, dass das Handwerk weniger Aufträge bekomme, weil sowohl die Kommunen als auch Privatleute (die über Steuern, Beiträge und Gebühren immer stärker belastet werden) weniger Geld übrighaben. Zudem würden gerade kleinere Betriebe durch überbordende Bürokratie belastet: „Wir brauchen Strukturwandel in vielen Bereichen. Ein ,Weiter so und Steuern hoch‘ bringt nichts.“
Lucian Lazar, Leiter Regionale Diakonie Groß-Gerau/Rüsselsheim, betonte, dass es im Kreis Groß-Gerau bislang gelungen sei, den sozialen Frieden zu erhalten. Er appellierte daran, die guten Strukturen nicht aus Geldmangel zu zerstören: „Wir brauchen diese Mittel weiterhin, um Menschen bei uns zu integrieren.“ Sogenannte freiwillige Leistungen seien „nicht nur Ausgaben, sondern Investitionen in Demokratie und Menschlichkeit“.
Für den kulturellen Bereich unterstützte Christian Suhr, Leiter der Riedstädter BüchnerBühne, diese Linie. „Kultur spiegelt das Selbstverständnis eines Gemeinwesens“, so sein Fazit. Es sei schlimm, wenn verschiedene Bereiche der Gesellschaft gegeneinander ausgespielt werden. „Wir müssen die Frage nach unseren Grundwerten neu stellen“, appellierte er.
Auch Professor Döring sieht beim Finanzthema den Knackpunkt Demokratieverantwortung. „Ohne Reformen droht Kommunen der Kollaps. Wir müssen über das System nachdenken, sonst gibt es große Probleme“, so sein Fazit. Er hatte ein paar Vorschläge mitgebracht: die unausgewogene Verteilung von Ausgabenlasten und Steuereinnahmen im öffentlichen Gesamthaushalt ändern; kommunale Steuerausstattung durch Erhöhung des Umsatzsteueranteils von 2 auf 6 Prozent verbessern; eigengestaltbare Steuern ausweiten; zwischen „Sozialhaushalt“ und restlichem Kommunalhaushalt trennen; Konnexitätslücken beseitigen; Eingliederungshilfen in eine Leistung der Sozialversicherung umwandeln; Finanzausgleich umgestalten (weniger rückblickend, stärker auf künftige Erfordernisse wie Klimaschutz und -anpassung fokussierend); Förderprogramme reduzieren zugunsten von pauschalen, zweckungebundenen Mittelzuweisungen; Standards reduzieren.
Für die Umsetzung müsse Wissenschaft mit Praxis in Kontakt treten.